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Sonntag, 30. Juni 2013

A Woman's World

Gestern kam ich ungefragt in den Genuss von Live-Musik. Mehr oder weniger unter meinem Schlafzimmerfenster wurde eine respektable Bühne errichtet und mit einer PA versehen, die aufgrund ihres Schalldrucks zweifellos dem Kriegswaffenkontrollgesetz unterliegen müsste. Jedenfalls ließen sich weite Teile Jersey Citys und des Liberty State Parks mühelos damit beschallen.

Eine kurze Nachfrage bei Mother Google brachte keine Ergebnisse hinsichtlich der Veranstaltung, also ließ ich mich einfach mal überraschen. Wie sich bald herausstellte wurde er ganze Aufwand nicht etwa für ein normales Konzert getrieben, sondern für die Aufnahme neuer Musikvideos. Da die Veranstaltung nicht öffentlich bekannt gegeben war, nehme ich an, dass die Zuschauer individuell eingeladen wurden. Quasi als Dankeschön an tapfere Fans.

Und so kam es, dass ich den ganzen Abend über ein und dasselbe Lied gehört habe, nur unterbrochen von Regieanweisungen ("Beim nächsten Durchgang mehr mitsingen!", "Alle ein paar Schritte nach rechts!", "Ein bißchen Geduld bitte, wir bauen mal eben unseren Kamerakram um!"). Eine Band, deren Namen nicht gefallen ist, spielte also ein gutes Dutzend mal ein Lied, dessen Namen ebenfalls nicht angesagt wurde. Naja, die Fans werden Bescheid gewusst haben.

Ich habe das ganz Spektakel aus sicherer Distanz von jenseits des Burggrabens Hafenbeckens betrachtet und mich angesichts des angenehmen Bass-Kribbelns in meinem Bauch gefragt, warum die Menschen direkt vor der Bühne noch nicht innerlich verblutet sind.

Schöner Nebeneffekt der Veranstaltung: die Lichtanlage zauberte wunderbare Reflexionen aufs Wasser (Anklicken für größere Ansicht):





Der Running Gag des Konzerts war übrigens "Gleich kommt noch Cher!". "Hüpft beim nächsten Durchgang  nochmal 'n bißchen höher! Und nicht vergessen: gleich kommt noch Cher!". "Ihr seid ein tolles Publikum! Und gleich kommt noch Cher!".

Huiuiuiui. Cher.

Und tatsächlich... nachdem die armen Schweine vor der Bühne knappe drei Stunden zum immer gleichen Lied frenetisch abhoppeln mussten und dem einen oder anderen sicher schon das Blut aus den Ohren lief, wurde tatsächlich Cher von ihrem Zivi auf die Bühne geschoben.

Ich war zu dem Zeitpunkt schon längst wieder zuhause und habe nur noch akustisch aber nicht mehr visuell an dem Konzert teilgenommen. Und die Aussicht, eine frisch abgespritzte und runderneuerte Cher von Ferne über die Bühne wackeln zu sehen, konnte mich nun auch nicht wirklich nochmal aus der Wohnung locken.

Nun also Auftritt Cher. Ungefähr ein halbes Dutzend mal behauptete sie unaufgefordert "It's a woman's world!". Naja, Cher muss es ja wissen mit ihren knapp 70 Lenzen. Besonderen Nachdruck verlieh sie dieser Aussage durch ihren Gesang, der vor allem im Refrain stark an ein Klaxon erinnerte. Oder an den samstäglichen Probealarm der Luftschutzsirenen, der leider gänzlich aus der Mode gekommen ist.

Nun werden wir also bald auf Youtube neue Videos von Cher und von irgendeiner anderen Band sehen. Live und spektakulär, aber nicht etwa vor 15.000 Leuten im Madison Square Garden in New York, sondern -- Festhalten! -- vor dem alten Eisenbahnterminal in Jersey City.

Ganz klar traf hier gestern wohl ein aufsteigender auf einen fallenden Stern.

Mittwoch, 5. Juni 2013

15 Jahre Eschede

Am 3. Juni jährte sich das Zugunglück von Eschede zum 15. Mal. Bei dem schwersten Bahnunfall in der deutschen Nachkriegsgeschichte starben damals 101 Personen. Viele weitere litten (und leiden) noch jahrelang unter körperlichen und seelischen Wunden, einem teilweise sehr ungeschickten Umgang der Bahn mit den Opfern und einem für etliche Beteiligte sehr unbefriedigendem Gerichtsprozess.

Der 15. Jahrestag war nun Anlass für die Bahn, sich -- vertreten durch ihren Chef Grube -- erstmals für das Unglück zu entschuldigen. Und auch im ZDF sah man sich bemüßigt, eine zweiteilige Doku vom zehnten Jahrestag 2008 auszugraben und zu senden. Vier, fünf Einzelschicksale werden darin über 90 Minuten im Detail vorgestellt. Alles sehr emotional. Und mit einem Hang zum billigen, reißerischen Sensationsjournalismus (Beispielzitat: "Es war ein schöner, warmer Sommertag, als das Grauen über ein bis dahin unbekanntes Dorf in der Lüneburger Heide hereinbrach."). Nun ja.

Und natürlich wird auch wieder die Frage aufgeworfen, wie sicher die Bahn und insbesondere der ICE nun eigentlich ist. Eigentlich fehlt nur noch die obligatorische Umfrage auf der Straße, bei der Lieschen Müller ein Bild des zerschellten ICEs vor die Nase gehalten wird und der journalistisch einwandfrei arbeitende Reporter anschließend fragt, ob Lieschen denn nicht zumindest ein klitzekleines bißchen Angst hätte beim Bahnfahren.

In ihrer Eigenschaft als ausgewiesene Expertin für Risikobetrachtungen, technische Zuverlässigkeitsanalysen, Sicherheitsbewertungen und Zulassungsfragen wird Lieschen Müller natürlich ausgesprochen vorhersehbar antworten. Und wenn sie vielleicht sogar noch ein wenig weint, war es ein guter Tag für den Reporter. Dann kann er beschwingt nach Hause gehen.

Bei allem Respekt vor dem Zugunglück, dessen Opfern, deren Hinterbliebenen und den zahllosen traumatisierten Helfern: es waren einmalig 101 Opfer zu beklagen.

Wie wärs, wenn wir uns ergänzend noch über jährlich
  • 1.000 Tote durch Schusswaffenmissbrauch
  • 4.000 Tote im Straßenverkehr
  • 26.000 Tote durch Alkohol
  • 120.000 Tote durch Rauchen
unterhalten würden?

Vielleicht möchte Lieschen Müller ja kurz ihr Glas abstellen, die Zigarette austreten und dann einen Kommentar abgeben?



Kleines Postskriptum: es ist ethisch/moralisch nicht ganz unproblematisch, Tote gegeneinander aufzurechnen. Das ist mir bewusst. Im Sinne einer rein rechnerischen Risikobetrachtung erzeugt ein Unglück mit einem Toten jedoch ein geringeres individuelles Risiko als ein Unglück mit 100 Toten bei ansonsten gleichen Rahmenbedingungen.
Und: Menschen neigen dazu, hervorstechende Einzelereignisse subjektiv schwerer zu bewerten als schleichende Prozesse (Beispiel: Eschede vs. Rauchen). Gleiches gilt für Risiken, die man nicht kontrollieren kann, im Vergleich zu Risiken, die man glaubt, selber beherrschen zu können (Beispiel: Bahnfahren vs. Autofahren). Das alles erklärt die Reaktionen ein wenig, aber macht es insgesamt nicht besser...