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Mittwoch, 5. Juni 2013

15 Jahre Eschede

Am 3. Juni jährte sich das Zugunglück von Eschede zum 15. Mal. Bei dem schwersten Bahnunfall in der deutschen Nachkriegsgeschichte starben damals 101 Personen. Viele weitere litten (und leiden) noch jahrelang unter körperlichen und seelischen Wunden, einem teilweise sehr ungeschickten Umgang der Bahn mit den Opfern und einem für etliche Beteiligte sehr unbefriedigendem Gerichtsprozess.

Der 15. Jahrestag war nun Anlass für die Bahn, sich -- vertreten durch ihren Chef Grube -- erstmals für das Unglück zu entschuldigen. Und auch im ZDF sah man sich bemüßigt, eine zweiteilige Doku vom zehnten Jahrestag 2008 auszugraben und zu senden. Vier, fünf Einzelschicksale werden darin über 90 Minuten im Detail vorgestellt. Alles sehr emotional. Und mit einem Hang zum billigen, reißerischen Sensationsjournalismus (Beispielzitat: "Es war ein schöner, warmer Sommertag, als das Grauen über ein bis dahin unbekanntes Dorf in der Lüneburger Heide hereinbrach."). Nun ja.

Und natürlich wird auch wieder die Frage aufgeworfen, wie sicher die Bahn und insbesondere der ICE nun eigentlich ist. Eigentlich fehlt nur noch die obligatorische Umfrage auf der Straße, bei der Lieschen Müller ein Bild des zerschellten ICEs vor die Nase gehalten wird und der journalistisch einwandfrei arbeitende Reporter anschließend fragt, ob Lieschen denn nicht zumindest ein klitzekleines bißchen Angst hätte beim Bahnfahren.

In ihrer Eigenschaft als ausgewiesene Expertin für Risikobetrachtungen, technische Zuverlässigkeitsanalysen, Sicherheitsbewertungen und Zulassungsfragen wird Lieschen Müller natürlich ausgesprochen vorhersehbar antworten. Und wenn sie vielleicht sogar noch ein wenig weint, war es ein guter Tag für den Reporter. Dann kann er beschwingt nach Hause gehen.

Bei allem Respekt vor dem Zugunglück, dessen Opfern, deren Hinterbliebenen und den zahllosen traumatisierten Helfern: es waren einmalig 101 Opfer zu beklagen.

Wie wärs, wenn wir uns ergänzend noch über jährlich
  • 1.000 Tote durch Schusswaffenmissbrauch
  • 4.000 Tote im Straßenverkehr
  • 26.000 Tote durch Alkohol
  • 120.000 Tote durch Rauchen
unterhalten würden?

Vielleicht möchte Lieschen Müller ja kurz ihr Glas abstellen, die Zigarette austreten und dann einen Kommentar abgeben?



Kleines Postskriptum: es ist ethisch/moralisch nicht ganz unproblematisch, Tote gegeneinander aufzurechnen. Das ist mir bewusst. Im Sinne einer rein rechnerischen Risikobetrachtung erzeugt ein Unglück mit einem Toten jedoch ein geringeres individuelles Risiko als ein Unglück mit 100 Toten bei ansonsten gleichen Rahmenbedingungen.
Und: Menschen neigen dazu, hervorstechende Einzelereignisse subjektiv schwerer zu bewerten als schleichende Prozesse (Beispiel: Eschede vs. Rauchen). Gleiches gilt für Risiken, die man nicht kontrollieren kann, im Vergleich zu Risiken, die man glaubt, selber beherrschen zu können (Beispiel: Bahnfahren vs. Autofahren). Das alles erklärt die Reaktionen ein wenig, aber macht es insgesamt nicht besser...


2 Kommentare:

  1. Die Überschrift,in Enschede passieren andere Dramen...

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  2. Aaaargh... danke für den Hinweis, hab's korrigiert!

    Musste schon beim Schreiben immer aufpassen, nicht versehentlich "Enschede" einzutippern... irgendwie ist mein Bezug zu Enschede größer als der zu Eschede... :)

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