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Freitag, 17. August 2012

Yes, we can! Or not?

Seit ein paar Jahren schaut die Eisenbahnwelt gebannt in die USA, in letzter Zeit mit zunehmendem Erstaunen. Lustigerweise lohnt es sich auch für Nicht-Eisenbahner, sich die Ursachen dafür einmal genauer anzusehen, weil sich dadurch ein paar spannende Einblicke in die amerikanische Denke ergeben.

Zur Einstimmung muss man wissen, dass Züge in Amerika gerne mal frontal zusammenstoßen und dass Autofahrer ab und zu Probleme haben, das Rotlicht an Bahnübergängen korrekt zu interpretieren. Vielleicht überschätzen sie auch einfach nur die Stabilität ihrer überkandidelten SUVs und Pickups, was sich als fataler Fehler herausstellen kann, wenn sich ein 2 Meilen langer, 10.000 Tonnen schwerer und 80 km/h schneller Güterzug nähert. Da sollte man besser nicht im Weg stehen, weil der alles unterhalb der Größe eines handelsüblichen Mittelgebirges einfach platt macht. Naja, jedenfalls sterben jedes Jahr in den USA ca. 800 Personen bei Zugunfällen aller Art und etwa zehnmal so viele werden verletzt.

Zum Vergleich: in Deutschland starben in den Jahren 2005 bis 2009 jährlich zwischen einer und sieben Personen im Eisenbahnverkehr. Skaliert man das über die Bevölkerungsgröße (330 Mio. zu 80 Mio.) hoch, dürften die USA auf etwa 20 Tote jährlich kommen. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass in DE prozentual mehr Menschen mit dem Zug reisen als in den USA, wo viel geflogen wird.

Es ist also fair, zu sagen: in den USA werden vierzig Mal so viele Menschen im Eisenbahnverkehr getötet wie in Deutschland. Und über lange Jahre hat das niemanden gejuckt. Das lass ich jetzt mal einfach so stehen und empfehle euch das als Einblick Nr. 1 in die amerikanische Psyche.

Ein besonders krasser Unfall ereignete sich im Jahre 2008 in Chatsworth nahe L. A. Weil der Lokführer eines Pendlerzuges gerade mit dem Schreiben einer SMS beschäftigt war, hat er ein rotes Signal überfahren und ist frontal mit einem Güterzug kollidiert. Güterzug. Ihr erinnert euch. Genau. 10.000 Tonnen. 2 Meilen. Mittelgebirge.

Ich hoffe sehr, dass sich die SMS gelohnt hat. Sie hat nämlich 25 Menschen das Leben gekostet und 135 verletzt, 46 davon schwer.

Der eigentlich Skandal an der ganzen Geschichte ist aber nicht der SMS-schreibende Lokführer, sondern die Tatsache, dass der Zug nicht automatisch gebremst wurde, als er über das rote Signal gekachelt ist. Geräte, die solche automatischen Zwangsbremsungen auslösen, sind in Europa und eigentlich allen anderen "entwickelten" Ländern der Erde heute Standard. In Deutschland gibt sie es unter den Namen "INDUSI" bzw. "PZB" bereits seit Mitte der 1930er Jahre.

Als Einsicht Nummer zwei wollen wir also festhalten: das Land, das jeden Videorekorder und jeden Kaffeebecher mit gelben Warnhinweisen vollklebt, das überall mit "Safety First" wirbt, das alle paar Meter Schilder mit irgendwelchen Maßregelungen und der Einleitung "For you safety..." aufhängt und das unter jedem Turban eine Bombe vermutet, genau das Land verzichtet auf seit 80 Jahren verfügbare Standardgeräte, die Züge automatisch bremsen bevor es zu einer Kollision kommt1.

Der hohe Sicherheitsstandard in Europa hat allerdings eine Kehrseite. Europas verschiedene Die-Bremse-Geht-Von-Selber-An-Wenn-Der-Zug-Über-Rot-Fährt-Systeme -- man bezeichnet das auch kürzer als "Zugsicherungstechnik" oder einfach "Sicherungstechnik" -- sind alle länderspezifisch und untereinander inkompatibel. Eine durchschnittliche Güterzuglok, die beispielsweise die beliebte Hafen-zu-Hafen-Strecke von Rotterdam nach Genua abfährt und auch ab und zu einen Abstecher nach Skandinavien macht, hat ein gutes halbes Dutzend Kästchen an Bord. Ein Sicherungssystem für jedes Land.

Das wurde den europäischen Bahnen irgendwann zu bunt und sie haben mit politischem Rückenwind die Erfindung eines europaweit einheitlichen Sicherungssystems angestoßen: das "European Train Control System", ETCS. Davon wird gleich noch die Rede sein.

Unsere Freund in Amerika haben unterdessen nach dem Desaster von Chatsworth doch mal über den atlantischen Tellerrand geblickt und festgestellt, dass man sich weltweit langsam aber sicher lächerlich macht, wenn man weiterhin den Bahnbetrieb wie im Wilden Westen abwickelt, also quasi ohne Sicherheitsgurt. Also gilt es, das zu ändern! Als dritte Einsicht stellen wir nun mit staunendem, offenem Munde fest, dass es die USA immer wieder schaffen, aus voller Fahrt eine 180°-Kehrtwende einzulegen, ohne sich vorher lange mit Diskussionen aufzuhalten. Denn noch im gleichen Jahr und nur wenige Monate nach Chatsworth hat der Congress ein Gesetz verabschiedet, dass einem Großteil des amerikanischen Streckennetzes und einem Großteil der Lokomotiven den Einbau eines Sicherungssystems vorschreibt. Das ist der berühmte (naja...) "Rail Safety Improvement Act" von 2008.

Die Eisenbahnwelt schaute nach Amerika und staunte. Sie staunte über nicht weniger als 100.000 km Strecke und ca. 25.000 Lokomotiven, die es auszurüsten gilt.

Die Eisenbahnwelt schaute genauer hin und stellte fest, dass die Amerikaner nicht etwa irgendein bestehendes System nutzen wollen, sondern eines, das es damals nur in ersten Skizzen auf dem Papier gab. Das für die Kommunikation ein Funksystem einsetzen will, das komplett neu entworfen werden muss. Das erfordert, das gesamte Streckennetz der USA metergenau digital zu kartographieren. Und dessen komplexeste Schnittstelle -- nämlich die zu den innerbetrieblichen Planungs- und Leitsystemen -- bei jeder Eisenbahngesellschaft einzigartig ist und individuell entwickelt werden muss.

Nachdem die Eisenbahner dieser Welt aus ihrem Schock-Koma erwachten, lasen sie den Gesetzestext zu Ende, was sich unmittelbar als Fehler herausstellte. Dort stand nämlich das Zieldatum, bis wann der gesamte Entwicklungs- und Umbauprozess abgeschlossen sein muss. Daraufhin fielen die Experten ein weiteres Mal in Ohnmacht.

Kurz bevor ihnen schwarz vor Augen wurde lasen sie: Dezember 2015. Sieben Jahre.

Welt: "Die spinnen, die Amis. Das schafft ihr nie!"

Amerika: "Yes, we can! Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!"

Welt: "Na, ihr als jahrelange Experten in Sachen Sicherungstechnik *hüstel, hüstel* müsst es ja wissen! Viel Erfolg einstweilen!"

Amerika: "Ihr werdet schon sehen! Das werden wir gleich haben!"

Lasst uns also als vierte Erkenntnis festhalten, dass sich Amerika von einen einmal eingeschlagenen Weg nicht so ohne weiteres Abbringen lässt. Erst recht nicht von so nebensächlichen Dingen wie Expertenmeinungen. Schließlich sind wir das very finest people des very finest countries und wir wären niemals so groß geworden, wenn wir uns keine ehrgeizigen Ziele setzen würden! Chuck Norris mag zehn Jahre für den Umbau brauchen, wir schaffen es in sieben!

Verlassen wir die Vereinigten Staaten von Amerika für einen Augenblick und wenden uns den Vereinigten (?) Staaten von Europa zu. Werfen wir mal ein Blick auf deren Konkurrenzprodukt, dem ETCS. An ETCS prokelt man seit gut 20 Jahren rum. Alleine das Schreiben und "reifen lassen" der Spezifikation hat etwa 15 Jahre gebraucht. So langsam kommt die Einführung richtig in Fahrt und ETCS ist auf einigen Strecken Europas und anderen Teilen der Welt im Passagierbetrieb. Europa wählte einen evolutionären Ansatz, das heißt es wurde anders als in Amerika keine europaweite Umrüstung befohlen, sondern es werden lediglich neue Strecken und Fahrzeuge verpflichtend ausgerüstet und der Rest ist freiwillig. So sollen die alten Systeme langsam aussterben. Das wird aber, sagt mein Bauchgefühl, bestimmt noch weitere 30 Jahre dauern. Erste kleinere Länder wie die Schweiz, Luxemburg, Belgien und bald auch Dänemark werden aber bereits in den kommenden Jahren ihr gesamtes Land freiwillig auf ETCS umgestellt haben.

Halten wir also fest: die Schnarchnasen im Alten Europa brauchen 20 Jahre, um ein paar hundert Seiten Spezifikation zusammenzukloppen und den Kram dann auch noch funktionierend in kleineren Stückzahlen ins Feld zu bringen.

Unter amerikanischer Flagge geht sowas natürlich viiiel schneller. Denn, wie gesagt, so'n bißchen bremsen, das werden wir gleich haben.

Denkste.

Denn wo stehen wir heute, nach vier von sieben Jahren? Die mehr oder weniger in Hinterzimmern ausgehandelten Spezifikationen für das US-System sind, nach allem was man weiß, noch immer unvollständig. Die Kisten für die Loks gibt es noch nicht oder sie funktionieren nicht, so genau kommt man da nicht hinter. Das Funksystem ist nicht lieferbar. Die vorgesehenen Funkfrequenzen werden absehbar nicht ausreichen, um auch größere Städte oder dichteren Verkehr abzuwickeln. Die individuelle Schnittstelle zum Leitsystem verursacht Albträume. Zusammengebaut ("integriert") hat das System noch gar niemand. Daran, ruckel- und bremsfrei über die Territoriumsgrenzen verschiedener US-Eisenbahnen mit ihren verschiedenen Inkarnationen/Variationen des neuen Systems zu fahren ("Interoperabilität"), wagt noch gar niemand zu denken.

Und das ist nicht etwa meine Schwarzmalerei, sondern das alles (und noch viel meeeeehr....) hat die FRA, die amerikanische Eisenbahnbehörde, vor ein paar Tagen dem Congress in einem offiziellen Bericht vorgelegt. Unabhängig von der konkreten Domäne "Eisenbahn" ist der Bericht für jeden (angehenden) Projektleiter ausgesprochen lesenswert. Angesichts der vielen offenbarten "unterschätzen Risiken", der "unerwartet hohen Komplexität" und der häufigen Annahme des "problemlosen Happy-Paths" in der Zeitplanung kommt man als technisch halbwegs versierter Leser jedenfalls aus dem Fazialpalmieren kaum noch heraus.

Insgesamt geht es hier übrigens nicht um Peanuts: laut FRA wurden bereits 1,5 Mrd. Dollar in das Projekt investiert und weitere 5,2 Mrd. Dollar werden wohl noch folgen. Aber glücklicherweise sprechen wir hier vom Geld privater Unternehmen und nicht etwa von öffentlichen Mitteln. Ein kleiner Trost aber immerhin ein Trost.

Und wie gehts weiter? Aus alter ETCS-Erfahrung prognostiziere ich persönlich noch mindestens weitere 10 Jahre, ehe das System anfängt, richtig rund zu laufen. Bei typischerweise leicht ansteigender Burn-Rate wären dann auch die weiteren von der FRA geschätzten 5 Mrd. Dollar verbraucht. Damit wären wir dann ungefähr auf der Zeitschiene, die ETCS knapp 20 Jahre vorher ebenfalls genommen hat.

Na so ein Zufall aber auch.


1: Okay, wir wollen ehrlich sein. Ich habe hier aus dramaturgischen Gründen die Realität etwas vereinfacht. Zum einen sind in den USA punktuell durchaus entsprechende Systeme im Einsatz und zum anderen wurde die INDUSI/PZB in Deutschland auch erst irgendwann in den 1960er oder 1970er Jahren landesweit Pflicht. Die Ursache: ein schwerer Unfall, was sonst. Einzelne Nebenstrecken sind übrigens bis heute nicht mit PZB ausgestattet; so konnte es beispielsweise zum Unfall in Hordorf im Januar 2011 kommen, bei dem 10 Menschen starben.

Disclaimer 1: ich habe, mit ein paar Unterbrechungen, seit fast 10 Jahren mein Geld durch die Arbeit mit / an ETCS verdient. Ich bin also ein wenig voreingenommen.

Disclaimer 2: der gesamte Vorgang ist politisch hoch sensibel und es geht um nicht wenig Geld. Daher möchte ich betonen, dass ich hier selbstverständlich nur meine private, persönliche Meinung vertrete, besonders was die Zukunftsprognosen des US-Systems angeht.


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