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Donnerstag, 23. August 2012

Der Ampelmann

Heute kam das Fass zum Überlaufen. Nachdem ich mich Anfang der Woche zwei Tage lang mit einer konzernweiten Designabteilung für Printerzeugnisse herumgeschlagen habe, deren Inkompetenz und Ignoranz jeder Beschreibung spottet und die eigentlich einen eignen Blogeintrag wert wäre, kam heute ein Kollege irgendeiner Stabsabteilung mit der Bitte um eine "Folie für das Management" um die Ecke.

Nach kurzem Blick auf die Folienvorlage habe ich erstmal den Gernot Hassknecht gemacht und den umsitzenden Anwesenden eine überzeugende Kostprobe meines englischen Schimpfwortschatzes gegeben.

Langsam bin ich es nämlich wirklich leid. Es kotzt mich an. Ich habe es satt, immer neue Anfragen nach irgendwelchen Ampel- oder Matrixdarstellungen komplexer Fragestellungen zu bekommen. Liebe Freunde: das ist Quatsch, Zeitverschwendung, Augenwischerei! Die Welt ist keine Ampel! Die Welt ist keine Matrix, ist nicht zweidimensional! Die Aussagen dieser tollen, bunten Folien sind komplett beliebig! Ihr macht euch selber etwas vor! Ihr lebt in einer PowerPoint-Parallelwelt! Ihr fällt Entscheidungen über Probleme, die ihr nicht vollständig verstanden habt! Denkt nur einmal fünf Minuten darüber nach, wie diese tollen Bilder in euren PowerPoint-Folien zustande kommen und was sie wirklich aussagen. Löst euch von eurem Anspruch, sämtliche Fragestellungen entscheidungsadäquat in Form eines bunten Bildes aufbereiten zu lassen! DAS. GEHT. NICHT.

Mich regt das dermaßen auf, dass ich jetzt gerade, wo ich dieses schreibe, innerlich wieder so aufbrause, dass ich ernsthafte Schwierigkeiten habe, einen einigermaßen strukturierten Artikel zusammenzustammeln. Versuchen wir's trotzdem.


Die Illusion von Einfachheit

Wie die meisten anderen (Technologie-)Unternehmen beschäftigen auch wir uns mit sehr komplexen Zusammenhängen. Branchentypisch erwirtschaften wir unser Geld fast ausschließlich im Anlagen- und Projektgeschäft, so dass wir überall ein anderes Umfeld, andere Einflussfaktoren, andere Anforderungen und somit andere Risiken vorfinden. Besonders bei der Bewertung von Risiken ist viel Erfahrung, Fingerspitzengefühl und Abwägung gefragt. Risiken können zudem in unterschiedlichsten Feldern liegen, z. B. technisch, anforderungsseitig, zulieferseitig, terminlich, ressourcenmäßig, normenseitig, zulassungsseitig, umweltseitig, klimaseitig, hinsichtlich der Kooperationsbereitschaft des Kunden, dessen Liquidität, durch Währungsschwankungen, subventionsseitig bzw. politisch, durch Querschläger/Abhängigkeiten aus anderen Projekten, Produktroadmaps, Releasepläne, Abhängigkeiten/Kooperationen mit Wettbewerbern in Großprojekten, Finanzierungsmodelle, usw.

Ja, das ist verdammt nochmal sch*ße kompliziert. Und, ohne prahlen zu wollen, wir reden hier typischerweise von Infrastrukturprojekten im deutlich zweistelligen Millionenbereich (Euro bzw. US-Dollar).

Die Vorstellung, ein solches Projekt in einer einzigen Ampel zusammenzufassen, ist absurd. Wird aber verlangt. Und, noch schlimmer: die Illusion, auf Basis dieser Ampel eine informierte Entscheidung treffen zu können, halte ich sogar für gefährlich.

Die Illusion der Vergleichbarkeit von Ampeln

Ebenfalls sehr beliebt: den Status mehrerer "Dinge" (Projekte, Prozesse, Fortschritte, was auch immer) vergleichend durch je eine Ampel übersichtlich darstellen.

Das Dumme daran: jeder Ampel-Zulieferer gewichtet anders. Nach seinen eigenen Kriterien, die beliebig richtig oder falsch sein können. Die gelbe Ampel von Kollege A wäre nach Kriterien von Kollege B vielleicht längst tiefrot.

Ich habe noch niemals nie eine vergleichende Ampeldarstellung gesehen, bei der vorab die Kriterien für die Farbwahl konkret und gewichtet definiert worden wären.

Die Darstellung ist also für ihren Zweck, verschiedene Zustände zu vergleichen, vollkommen ungeeignet, weil die Vergleichbarkeit aufgrund unklarer Kriterien nicht gegeben ist.

Ergebnis dieser tollen Methode: in einer einstündigen Sitzung wird 40 Minuten lang über das rote Licht von Kollege X debattiert und für das gelbe Licht von Herrn Y, hinter dem der 20-fache mögliche Schaden von  X steht, bleibt am Schluss keine Zeit mehr.

Die Illusion der Zweidimensionalität von Problemen

Bei meinem oben genannten Ausraster ging es um die Bitte einer Matrix- oder Portfoliodarstellung. Solche Darstellungen sind sehr beliebt. Zwei Größen / Achsen werden einander gegenübergestellt und spannen eine Diagrammfläche auf. Dann werden für verschiedene Wettbewerber, Produkte, Projekte, Alternativen oder was-auch-immer diese beiden Werte bestimmt und für jedes dieser Was-Auch-Immer wird ein Klecks ins Koordinatensystem gemalt. Am Ende hat man ein Diagramm mit lauter Pickeln. Und der Pickel, der ganz oben rechts oder ganz unten links steht (je nach Wahl der Größen auf den Achsen), ist der Tollste, Beste, der Über-Performer.

Bullshit.

Ausnahmslos alle realen Fragestellungen haben mehr als zwei Dimensionen. Haben sogar mehr als zwei maßgebliche Dimensionen, also Dimensionen, die wegen ihres erheblichen Einflusses nicht schon in erster Näherung weggelassen werden dürfen. Sonst findet eine unzulässige Verkürzung des realen Sachverhaltes statt.

Aber: mehr als zwei Dimensionen lassen sich auf Papier oder in Excel leider nicht so gut darstellen. Außerdem tut das immer so weh zwischen den Ohren, wenn man mehr als zwei Einflussgrößen gegeneinander abwägen muss. Und dafür braucht man dann auch mehr als 10 Minuten. Das ist ja doof. Also muss man sich dann halt entscheiden und einige wichtige Aspekte unter den Tisch fallen lassen.

Ergebnis: Entscheidungen werden auf unzureichender, zweidimensionaler Grundlagen gefällt. Und weil sich zwei Dimensionen so leicht durchschauen lassen, denken die Nutzer dieser bunten Bildchen auch noch, sie hätten das wahre Problem durchdrungen und verstanden und könnten künftig mitreden.

Ich wiederhole mich gerne: Bullshit.

Die Illusion der Vergleichbarkeit von Matrixdarstellungen

In meinem konkreten -- und leider typischen -- Beispiel war eine der Matrixachsen für "Entwicklungsbudgets" vorgesehen. "Aha", mag sich jetzt der unbedarfte Schlipsträger denken, "das ist ja leicht, das lässt sich gut vergleichen und quantifizieren.". Aber leider ist das wieder zu einfach gedacht.

Sollen die Budgets nur die Entwicklung von Neuprodukten enthalten? Oder auch die Pflege von Altprodukten? Nur die Entwicklung bis zum Prototypen? Oder bis zur Serienreife? Sind Feldtests enthalten oder nicht? Mit Sachkosten oder ohne? Mit Zulassung oder ohne? Nur das Geld für die eigenen Leute oder auch die Ausgaben für Werksverträge und Leiharbeiter? Nur die Kosten für die Entwickler oder inklusive Overhead wie Projektleitung und Qualitäts-, Konfigurations- und Dokumentenmanagement? Nur eigenfinanzierte Basisentwicklung oder auch direkt kundenfinanzierte, projektspezifische Entwicklungen?

Je nachdem, wie ich diese Fragen für mich beantworte, können Größenordnungen zwischen den möglichen Werten für das "Entwicklungsbudget" liegen. Man könnte auch sagen: das Ergebnis ist beliebig.

Besonders krass ist dieser Effekt, wenn man sich mit Wettbewerbern und deren Angaben z. B. aus Quartalsberichten vergleichen möchte. Hier hat man naturgemäß überhaupt keine Ahnung, wie bestimmte Zahlen zustande gekommen sind (innerhalb der Bilanzierungsrichtlinien, natürlich). Man kann nur raten. Und das geht bekanntlich öfter schief als gut.

Wenn ich also Daten auf derartig beliebiger Grundlage einander in einer Matrixdarstellung gegenüberstelle, vergleiche ich bestenfalls Äpfel mit Birnen. Bestenfalls!

Die Illusion der Präzision

Streng betrachtet hat jeder (Mess-)Wert drei Teile: den Erwartungs- oder Mittelwert, die Ungenauigkeit und die statistische Angabe, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Wahre Wert im Ungenauigkeitsinterval um den Mittelwert liegt.

Zu kompliziert? Zu anstrengend? Dacht ich mir. Geht den meisten so.

Immer, wenn ich einen Klecks in ein Diagramm male, ist mindestens eine der Koordinaten geschätzt. Grund: siehe oben, Beispiel Entwicklungsbudget. Oder einfach durch mangelndes Wissen oder schlechte Quantifizierbarkeit. Jeder Klecks müsste also mindestens einen Fehlerbalken haben, der die Schätzungenauigkeit bzw. die Spanne zwischen "Best Case" und "Worst Case" angibt.

Aaaaaaaaaaaaaber dann geht ja die schöne, suggerierte Einfachheit der Zusammenhänge verloren und die verdammte Realität und die ihr innewohnende Komplexität hält Einzug. Das können wir nicht zulassen!

Tatsache ist: bei vielen realen Problemen sind die Unsicherheiten so groß, dass man anstelle eines kleinen Kleckses eigentlich riesige, fette Kreise in das Diagramm einzeichnen müsste und die Diagrammfläche mehr oder weniger farbig gefüllt wäre. Sieht dann zwar doof aus, entspräche aber der Wahrheit. Das will aber keiner sehen. Also machen wir uns weiter alle gegenseitig mit vorgetäuschter Präzision und ohne Fehlerbalken etwas vor. Und fällen Entscheidungen auf dieser Grundlage.

Von horizontalen und vertikalen Ampeln

Meiner Ansicht nach gibt es sogar Situationen, in denen Ampeln gut sind. Nämlich wenn sich verschiedene Teams auf der gleichen Komplexitäts- oder Hierachieebene austauschen und abstimmen möchten. Hier haben Ampel-Erzeuger und Ampel-Konsumenten in der Regel den gleichen Kontext, stecken in vergleichbaren Situationen und legen ähnliche Bewertungsmaßstäbe an.

Im horizontalen Informationsaustausch können Ampeln also durchaus dazu dienen, einen schnellen, vergleichbaren und einheitlich interpretierbaren Eindruck einer Situation zu erzeugen bzw. zusammenzufassen.

In der vertikalen Kommunikation, also auf dem Weg nach oben durch die Hierachiebenen, muss das Fehlschlagen. Hier fehlt der Kontext und die zur Interpretierbarkeit der Ampeln und Matrixdarstellungen notwendigen Nebenbedingungen sind nicht bekannt. Mit all den oben beispielhaft aufgeführten Konsequenzen.

Bunte Bilder ersetzen kein Kontextwissen und kein Informationsdefizit! Ohne den Kontext kann ich nahezu beliebige Aussagen aus ihnen ableiten!

Der Garbage-In-Garbage-Out-Effekt

Ich bin kein Idiot und auch nicht so weltfremd, dass ich nicht akzeptiere (und sogar befürworte!), dass Entscheidungsvorlagen auf dem Weg nach oben abstrahiert werden müssen. Dass Details entfallen müssen. Dass schwierige technische und/oder kommerzielle Zusammenhänge auf ihren Kern, ihre wichtigsten Einflussgrößen reduziert werden müssen. Ich bilde mir sogar ein, das recht gut zu können.

Leider halte ich Ampeln und Matrixdarstellungen in den allermeisten Fällen als dafür vollkommen ungeeignet und für eine reine Augenwischerei.

Wer als Entscheider nicht gewillt ist, eine halbe Seite mit Erläuterungen zu lesen oder einer 15-minütigen Erklärung eines Fachexperten zu lauschen, spielt in meinen Augen va banque. Wer glaubt, die allgegenwärtigen Foliensätze mit Ampeln und Matrixdarstellungen sind ein akzeptables Abstraktionsniveau für weitreichende Geschäftsentscheidungen, irrt meiner Ansicht nach gewaltig.

Ich wiederhole gerne meine ursprünglichen Ausführungen: in vielen Branchen begegnet man heute komplexen, stark vernetzten Problemfeldern, Aufgaben und Situationen. Es gibt in der Regel dutzende Einflussfaktoren, die alle ähnlich starke Auswirkungen auf den Erfolg eines Projektes haben. Wer diese vielen annähernd gleichgewichteten Faktoren auf einen (Ampel), zwei (Matrix) oder vier (Bullet-Points auf Folien) reduziert, lässt, mathematisch ausgedrückt, signifikante Teile des Problemraumes außer Acht und vereinfacht unzulässig.

Ist das Problem aber unvollständig verstanden, kommt meist keine gute Lösung raus. Wiederum mathematisch ausgedrückt: aus falschen Annahmen kann ich beliebige, falsche Schlüsse ziehen.

Wer Beispiele dafür sucht, möge einfach nur mal auf den üblichen Nachrichtenseiten im Internet die Namen bekannter Großunternehmen in die Suchmaske eingeben. Unterhaltung ist garantiert.

Edit / Update:
Ein erwähnenswerter Aspekt ist noch, dass es meiner Erfahrung nach keine einheitliche Hierachiestufe gibt, ab der der blinde Glaube einsetzt. Zum Teil treffe ich etliche Hierachiestufen über mir noch auf verständige Kollegen, die sich ernsthaft ein Bild von der gesamten Situation machen wollen und sich Zeit für entsprechende Erklärungen nehmen und die entsprechend "harte" Fragen stellen. Andererseits wird manchmal schon auf reiner Sachbearbeiterebene in irgendwelchen Stabsabteilungen der Wunsch nach vereinfachten, kindgerechten Darstellungen so übermächtig, dass ich nur den Kopf schütteln kann.

3 Kommentare:

  1. Ganz ruhig, Brauner, geh mal bisschen auf die Weide

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  2. Ich danke für diesen konstruktiven, sachlichen Kommentar, der die Diskussion definitiv inhaltlich nach vorne bringt!

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  3. Man kann das Spiel auch umdrehen: während des Vortrags des Oberindianers einmal fragen, wo genau die Zahlen in seiner Präsentation denn herkommen. Besonders interessant, wenn die Zahlen auf die Wettbewerbssituation bezogen sind.
    Wie, z.B: messe ich denn den "Marketshare" von einem Industrieprodukt? Woher weiß ich genau, wieviel und was Konkurrent B weltweit an welchen Kunden für welche Preis verkauft hat?
    Und ja, auf Basis solcher in hübsche Grafiken gefassten Interpretationen werden große Budgets verhandelt und, eher albern: Boni berechnet.

    T.T.

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