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Sonntag, 13. November 2011

Essen für Ford-Geschrittene

Das Schöne am Arbeiten mitten in der City ist, dass man nicht auf irgendeinem Werksgelände einkaserniert und der firmeneigenen Kantine auf Gedeih und Verderb (vor allem Verderb!) ausgeliefert ist. Stattdessen geht man mittags einfach ein paar Schritte vor die Tür und ist von einem überwältigenden Futterangebot umgeben.

Die Erdgeschosse Manhattans gliedern sich nämlich grob gesagt in drei mehr oder weniger gleich große Teile: Bankfilialen, ESSEN und Rest. "Rest" umfasst Läden für Klamotten, Souveniers und sämtlichen anderen Kram, der keine Zinsen abwirft und den man besser nicht runterschlucken sollte. ESSEN ist dagegen alles vom schmierigen, anonymen Burgerbräter über die berühmten Delis bis hin zu edlen Steakhäusern.

Ganz oben auf der Liste meiner favorisierten Kaloriendealer steht dabei ein Schnellrestaurant, das mich auch nach einem guten Dutzend Besuchen immer wieder in Erstaunen versetzt: Chipotle.

Chipotle ist eine mexikanische Fast-Food-Kette mit etlichen Niederlassungen in den USA und natürlich auch in Manhattan. Aus drei Gründen ist mir Chipotle von allen Schnellrestaurants am sympathischten:
  • Eine Filiale liegt mehr oder weniger direkt gegenüber unseres Bürogebäudes und ist somit auch schlechtwetterkompatibel.
  • Das Essen ist, man höre und staune, meiner Ansicht nach einigermaßen gesund: Reis, Bohnen, Gemüse, mageres Fleisch. Wem das zu vernünftig ist, kann sich ergänzend noch eine Packung Tortillachips und einen großen Becher Cola kaufen.
  • Aus Sicht eines Ingenieurs ist der ganze Laden zum Niederknien gut organisiert.
Ich habe noch kein Schnellrestaurant gesehen, dass logistisch so perfekt aufgestellt ist. Henry Ford hätte seine helle Freude, weil im Prinzip wie am Fließband produziert wird. Wie ehedem bei der Fertigung der Tin Lizzy wird auch bei Chipotle nach dem Fließbandprinzip zusammengekloppt: viele Arbeiter machen immer nur einen Arbeitsschritt und sind dabei hocheffizient.

Zum besseren Verständnis habe ich "meinen" Chipotle-Laden mal grob von Hand skizziert:

Man betritt den eher schmalen Laden "von unten", also von dem Teil, den ich im Bild weggelassen habe. Dieser nicht gezeigte Teil macht übrigens etwa 2/3 des Ladens aus; ich habe der Einfachheit halber nur das "Kopfdrittel" dargestellt, weil dort die Action stattfindet.

Dem gelben Pfeil folgend tritt der hungrige Besucher an die Theke heran und entscheidet sich zunächst, ob er sein Futter aus einem Aluschälchen oder eingerollt in einem Teigfladen zu sich nehmen möchte. Die Aluschale ist natürlich Einwegkrams, während der Teigfladen auf natürlichem Wege in den Biokreislauf zurückgeführt wird.

Dem Meister über Schalen und Fladen teilt man auch noch mit, ob man Reis haben möchte und ob man schwarze Bohnen oder lieber Pintobohnen als Blähungskatalysator bevorzugt. Entsprechendes wird einem dann durch den Schalen-Schergen in den Napf bzw. auf den Fladen geschaufelt, bevor er den Krempel eine Station weiterreicht. Aufmerksam und immer auf Augenhöhe mit der späteren Mahlzeit geht der Kunde auf der anderen Seite des Tresen ebenfalls einen Schritt voran.

An den folgenden Stationen werden nach eigenen Wünschen dann Fleisch, Paprika, Mais, Tomaten, Salsasaucen, Käse, Salat und Guacamole hinzugefügt. Die vorletzte Fließband-Mensch-Maschine verpackt das Futter und am Schluß wird bezahlt. Falls man ein Getränk zum Essen geordert hat, bekommt man noch einen leeren Becher ausgehändigt, den man anschließend selber befüllen kann.

Der Ausstoß dieses Fließbands ist erstaunlich. Gefühlt liegt die Taktzeit irgendwo bei etwa sieben Sekunden; entsprechend ist man ca. 30 Sekunden nach Ereichen des Tresens abgefertigt. Und alle sieben Sekunden fällt hinten ein fertiger Gast aus der Produktion. Besonders beeindruckend ist übrigens die Kassiererin: ich habe noch niemanden gesehen, der eine vorsichtig mit langem Arm und spitzen Fingern dargebotene Kreditkarte so schnell an sich raffen, drehen und durch den Schlitz ziehen kann. "Ziehen" ist dabei nicht ganz treffend formuliert. "Reißen" wäre angemessener. Ich schätze, dass die Karte nicht länger als 0,5 Sekunden im Lesegerät bleibt. Und nach dem Durchziehen ca. 5 °C wärmer ist.

Doch zurück zur Produktion: Um einen optimalen Materialfluss für die Produktionsstraße sicherzustellen, ist die Küche direkt im Rücken der Tresencrew angeordnet. Über eine Durchreiche kann jederzeit frisches Futter nachgeladen werden. Optimal.

Zu Stoßzeiten wickelt sich die Schlange der Anstehenden übrigens fast einmal um den ganzen Laden / Sitzbereich bis fast zurück zur Kasse. In solchen Fällen kann es sein, dass die Fertigung spontan umgestellt wird: eine Mitarbeiterin mit portablem Kreditkartenterminal geht die Reihe der Wartenden entlang und kassiert schonmal. Am Schluss wird dann nur noch verglichen, ob der beim Vorabkassieren erhaltene Kassenzettel mit der späteren tatsächlichen Bestellung übereinstimmt. Eine Sekunde. Fertig.

Beeindruckend.

Ebenso beeindruckend ist die mögliche Vielfalt der Gerichte. Mathematisch gesehen haben wir folgende Kombinationen:
  • Teigfladen (Burrito) oder Aluschale: 1 Bit
  • Reis ja/nein: 1 Bit
  • Bohnen schwarz, Pinto, beide, keine: 2 Bit
  • Fleisch (Hühnchen, Rind, Schwein, Vegetarisch): 2 Bit
  • Je ein Bit für Paprika, Tomaten, Mais, Käse, Salat, Guacamole: 6 Bit
  • Zwei verschiedene Salsa-Saucen (eine, beide, keine): 2 Bit
  • Tortilla-Beilage ja/nein: 1 Bit
Macht in Summe 15 Bit. Also 2^15 - 1 = 32767 Möglichkeiten (ich habe die "Leere Bestellung" mal ausgeklammert, daher die "-1"). Ich könnte also 90 Jahre lang jeden Tag bei Chipotle etwas anderes zu essen bestellen! Okay, rein kombinatorisch ist da zwar auch eine ansonsten leere Blechschale mit nichts als ein paar Salatschnipseln bei. Aber das ist eben Mathematik.

Glücklicherweise lässt sich das Salatschipselproblem aber sehr leicht lösen: davon ausgehend, dass die 15-Bit-Zahl einfach von Eins an täglich um eins hochgezählt wird, sollte man das Salatbit einfach zum höchstwerigen Bit erklären. Dann erwischt mich der Nichts-als-Salat-Fall erst nach 45 Jahren. Und dann habe ich wahrscheinlich andere Sorgen als eine reine Salatmahlzeit bei Chipotle.


Update:
In einer ersten Version des Artikels habe ich mich verzählt und bin versehentlich auf 18 Bit gekommen. Das macht die Ergebnisse der Rechnung zwar dramatischer aber leider nicht richtiger. Entschuldigt bitte den den kleinen Lapsus.... und danke an Sören für den Hinweis!



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