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Sonntag, 6. November 2011

Tempus fugit

Eine der am häufigsten gestellten Fragen während meiner Braunschweig-Woche war: "Hast Du eine Wohnung gefunden? Wo wohnst Du? Wie lange brauchst Du zur Arbeit?".

Durch die ersten beiden Fragen outeten sich erstmal alle Nichtleser meines Blogs. ;-)

Auf die letzte Frage bin ich hier allerdings noch nicht so direkt eingegangen. Deshalb lohnt es sich, mal einen genaueren Blick auf die Hauptbeschäftigung vieler New Yorker zu werfen: rumlaufen und rumstehen. Wobei "rumstehen" in den meisten Fällen auch "rumfahren" einschließt, weil die öffentlichen Verkehrsmittel rappelvoll sind.

Um zunächst mal direkt zu antworten: ich brauche 40 Minuten von Tür zu Tür. Das teilt sich auf in 10 Minuten Fußweg zur U-Bahn, gut 20 Minuten Bahnfahrt und dann noch gut fünf Minuten von der Bahn ins Büro. Ein Fahrrad würde hier übrigens nur sehr bedingt helfen:
  • Der Weg in Manhattan von der Bahn ins Büro ist zu kurz, um effektiv mit dem Rad abgewickelt zu werden.
  • Zur PATH-Bahn für die Hudsonquerung  gibt es praktisch keine Alternative (die Autotunnel sind für Fahrräder verboten und die nächste Brücke bedeutet einen Umweg von ca. 25 km).
  • Einzig auf den ca. 1000 m von meiner Wohnung zur PATH-Bahn ließe sich mit einem Rad geringfügig Zeit sparen. Wenn man allerdings die Rüstzeit berücksichtigt (Fahrrad aus Wohnung schaffen, Fahrrad bei PATH-Bahn irgendwo sicher anketten), werden wohl kaum mehr als drei, vier Minuten übrig bleiben.
Nächstes Beispiel. Der Heimweg von irgendwelchen Parties/Feiern in Manhattan liegt, je nach Ort des Geschehens, gerne bei etwa 40 bis 60 Minuten. Zumindest für Feiern in Midtown und Downtown, weil man dort nie weit von der nächsten PATH-Station entfernt ist, die einen nach Hause bringt.
Gurken wir irgendwo weiter nördlich rum (so ab ca. 40 Straße aufwärts), muss ich zunächst eine U-Bahn zur nächsten PATH-Station nehmen, was die Sache wesentlich verkompliziert, weil ich nun insgesamt auf zwei statt auf einen Zug warten muss und ggf. noch ein paar Minuten Gehzeit von der U-Bahn-Station zur PATH-Bahn brauche. Nachts fahren die Züge außerdem seltener, was mehr Rumstehen auf dem Bahnsteig bedeutet. 
Dort kann man sich die Zeit ein paar Minuten lang durch das Beobachten des ääääh "schillernden" Partyvölkchens vertreiben, das wie man selbst auf dem Weg von/zur Abendunterhaltung ist. Bei manchen Gestalten geht "schillernd" allerdings auch fließend in "gruselig" über, aber unsicher oder gefährdet habe ich mich dabei noch nie gefühlt. Zum einen sind genügend un-gruselige Leute um mich herum1 und zum anderen bin ich in solchen Situationen meist ein klein wenig analkoholisiert, was mir einen entspannteren Blick auf meine Umgebung ermöglicht.


Aber ich schweife ab. Wir wollten uns ja über rumlaufen und rumstehen unterhalten.


Da Länge gelegentlich durchaus eine Rolle spielen kann, hier mal ein abschreckender Wert: vom Flughafen JFK in meine Wohnung sind es 2 bis 2,5 Stunden. Die teilen sich auf in:
  • Vom Flugzeug zum Einreisebereich tigern, rumstehen, warten, dem Grenzbeamten einen Stapel Formulare vorlegen, geduldig seine immer gleichen Fragen beantworten und eine erkennungsdienstliche Behandlung (Einscannen des Passes, Fotoaufnahme, Fingerabdrücke) über sich ergehen lassen: 30 Minuten.
  • Fahrt mit dem AirTrain und der LIRR nach Manhattan Penn Station: 50 Minuten.
  • Fahrt mit PATH-Bahn und Fußweg bis nach Hause: 40 Minuten.
Zur Orientierung: nur der letzte Wert ist spezifisch für meine Wohnung in New Jersey. Würde ich irgendwo in Manhattan wohnen, könntet ihr die 40 Minuten PATH ersetzen durch 20 Minuten U-Bahn fahren. Macht jetzt nicht so den Unterschied...
Die genannten zwei Stunden sind der Optimalfall. Die Einreiseprozedur kann auch gerne mal eine Stunde oder länger dauern. Und wenn man Pech hat und die Züge knapp verpasst, kann auch nochmal 'ne Viertelstunde Rumstehen an Bahnsteigen hinzukommen.
Eine Taxifahrt von JFK zur Penn Station kann übrigens, je nach Verkehrslage, deutlich länger dauern als die Bahnfahrt. Nur früh morgens oder spät abends kann man sich dadurch ggf. 'ne Viertelstunde erkaufen. Zum Preis von 45 Dollar für das Taxi anstelle von 11,75 Dollar für AirTrain und LIRR.


Die Distanz zwischen JFK und meiner Wohnung beträgt Luftlinie eigentlich nur 20 km. Bei zwei Stunden zwischen Flugzeugtür und Wohnungstür macht das stattliche 10 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit. Zum Vergleich: von der Tür meiner alten Wohnung in BS bis zur Haustür meiner Eltern habe ich auch immer exakt zwei Stunden gebraucht. Mit dem Auto. Für 210 km. Inklusive Querung von Bad Oeynhausen und Osnabrück, was alleine etwa 30 Minuten der gesamten Fahrzeit ausmachte.


Man kann seine kostbare Zeit allerdings auch noch anders vertrödeln, nämlich mit dem Weg zum Supermarkt. Für die Freunde von Graphen hier eine kleine Skizze:




Wenn ich also von meiner Wohnung zum Supermarkt gehe, brauche ich 15 Minuten. Ein Teil des Weges überdeckt sich allerdings mit meinem täglichen Weg zur Arbeit, nämlich dem Weg zur PATH-Bahn. Wenn ich also nach der Arbeit einkaufe, kann ich den ohnehin fälligen Weg zwischen PATH-Station und Wohnung doppelt nutzen, so dass ich unter dem Strich nur einen Mehraufwand von  2 x 5 Minuten für die Strecke PATH-Supermarkt-PATH habe. Ohne diesen Trick schlägt ein Einkauf mit mindestens einer Stunde zu Buche (2 x 15 Minuten Weg plus Einkaufszeit). Dies ist übrigens eines der Szenarien, wo ein Fahrrad ein wirkliche Verbesserung bringen würde!


Kleinere Wege (z. B. zum Mittagessen) und kleinere Wartezeiten (z. B. an Kassen und auf Bahnsteigen) eingerechnet, schätze ich, dass ich (werk-)täglich insgesamt etwa 2 Stunden mit Rumlaufen, Rumfahren und Rumstehen verbringe. Das ist deutlich mehr als in Braunschweig und ist letztlich natürlich ein Verlust an Freizeit. Einschränkend muss ich aber zugeben, dass meine Verhältnisse in Braunschweig ideal waren. Kollegen, die in Berlin wohnen und arbeiten, können von ähnlichen Zeiten wie ich hier in New York berichten. Und: unter den New Yorkern bin ich ebenfalls noch relativ gut dran; viele pendeln 1 - 1,5 Stunden pro Weg und Tag und bei einigen geht es rauf bis auf  2 Stunden pro Weg und Tag!


Kleine Anekdote zum Schluss: Artikel wie dieser scheinen ein Beleg zu sein, wie wichtig die Mobilität im heutigen Leben geworden ist und wieviel Zeit man mit Mobilität verbringt. Das ist allerdings eine verkehrte Wahrnehmung: tatsächlich sind in unserer ach so mobil gewordenen Welt einige wichtige Kennzahlen über die letzten Jahrzehnte annähernd gleich geblieben. Zum einen liegt das "Mobilitätsbudget" ziemlich gleichbleibend bei etwa 3,5 bis 4,0 Wegen pro Person und Tag. Und zum anderen ändert sich auch die pro Tag für Mobilität aufgebrachte Zeit nur unwesentlich. Die einzige wirkliche Veränderung hat sich bei der durchschnittlichen Wegstrecke ergeben. Die ist deutlich gestiegen. Sprich: wir gehen/fahren weder öfter noch länger als früher, sondern lediglich weiter. In erster Linie ist also nur unser Aktionsradius gestiegen und nicht die Mobilität/Aktivität an sich.


Der lateinische Titel dieses Artikels, "Tempus fugit" -- wörtlich "Die Zeit flieht", im übertragenen Sinne etwa "Die Zeit rennt" oder "Die Zeit verinnt" -- ist also hinsichtlich Verkehr und Mobilität heute so wahr wie früher. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.




1: Wo wir bedingt durch den Titel des Artikels schonmal bei Latein sind: hier irrte Seneca, als er in seinen "Epistulae morales ad Lucilium" empfahl, die Menge zu meiden (Buch 1, Brief 7), weil sie einen schlechten Einfluss ausübe. In Großstädten wie NY ist Menge gleichbedeutend mit Sicherheit. Man sollte daher dunkle, unbelebte Straßen und leere Bahnstationen meiden. Eine eigentlich erstaunliche Fehlleistung dieses großen Philosphen und Stokiers, wo sich doch New York eigentlich wie eine in die heutige Zeit skalierte Version des antiken Roms verhalten sollte. Vermutlich ist Seneca in seinem Leben einfach zu wenig U-Bahn gefahren.

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