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Samstag, 14. Januar 2012

Knickt er ein?

Ich habe etwas Kapital, das ich bereit wäre, zu investieren. Momentan suche ich aber noch nach einer geeigneten Investitionsform. Früher habe ich, wie andere auch, mein Kapital in mehrere verschiedene Kanäle gesteckt, die alle ihre Vor- und Nachteile haben, sich aber insgesamt ganz angenehm ausglichen. Ich hatte trotz der Vielfalt den Überblick und bin im Großen und Ganzen recht gut damit gefahren.

In den letzten ein, zwei Jahren musste ich aber beobachten, dass viele meiner Freunde und Bekannten umschichteten und von dieser diversifizierten Anlageform abgewichen sind. Alle investieren jetzt nur noch in einen einzigen Markt, in eine einzige Währung. Einigen sind die damit verbundenen Risiken bewusst; allerdings werden derzeit traumhafte Renditen ausgeschüttet, was das Risikodenken in den Hintergrund treten lässt.

Das Kapital: meine persönlichen Daten.

Der neue Markt: Facebook.

Ich kann sie hören: "Ohhhh, nich schooon wiiiieder... jetzt kommt er wieder mit seinem Datenschutz-Genörgel und seinen paranoiden Verschwörungstheorien...". Ja, so in etwa. Vielleicht etwas differenzierter und reflektierter als sonst. Wer das nicht lesen mag, kann gerne hier abbrechen und stattdessen noch ein paar Malware-Links auf seiner zugespamten Facebook-Pinnwand anklicken. Oder 'ne runde Angry Birds spielen. Viel Glück dabei und danke für's Vorbeischauen.

Schön. Nun wären wir also unter uns. Dann können wir ja anfangen.

Auftakt


Zur Person: ich bin seit ca. 1996 im Netz unterwegs, habe hunderte Stunden in IRC-Chats zugebracht, meine ICQ-Logs umfassen ca. 235.000 Zeilen, mein privates Mail-Archiv ca. 50.000 gesendete und empfangene Mails (ohne Spam), ich habe mehrere wissenschaftliche Veröffentlichungen im Netz, etliche Forenbeiträge, twittere dann und wann, betreibe dieses Blog, habe ein leicht angeschimmeltes XING-Profil und im StudiVZ bin ich ebenfalls vertreten. Sogar mit Klarnamen. Eine grundsätzliche Kommunikations- bzw. Datenparanoia kann man mir also nicht unbedingt vorwerfen.

Leider haben sich in letzter Zeit fast alle Freunde und Bekannte aus diesen breit gefächerten Kommunikationsarten zurückgezogen und wickeln nun alles über Facebook ab. Das Ergebnis: Monokultur. Zentralismus. Abhängigkeit.

Gefühlt bin ich einer der letzten Menschen auf diesem Planeten, der zwar regelmäßigen Internetzugang aber kein Facebook-Konto hat. Mir gruselt vor Facebook. Warum eigentlich?

Der Gruselfaktor


Um es gleich vorweg zu nehmen: ich habe keinerlei Bedenken, mein nach außen hin sichtbares FB-Profil soweit in den Griff zu bekommen, dass jederzeit jeder (einschließlich Eltern und Vorgesetzen, den beiden kritischsten Nutzergruppen) darüber stolpern dürfte, ohne mir Angstschweiß oder Schamesröte ins Gesicht zu treiben. Das ist nicht der Punkt.

Für mich ist der Gruselfaktor bei Facebook, was in deren Datenbanken schlummert und normalerweise nicht nach außen hin präsentiert wird und daher auch nicht durch mich beeinflussbar ist. Beispiele gefällig? Gern:
  • Der Like-Button: wann auch immer ihr eine Seite mit einem "Like"-Button anschaut (das sind mittlerweile ca. 15% der Webseiten), wird dies an Facebook berichtet und mit euren Account verknüpft. Dazu müsst ihr nicht mal bei Facebook eingeloggt sein. Ihr müsst auch nicht auf den Button klicken. Allein der Aufruf der Seite reicht. So kann FB ein komplettes Surfprofil von euch erstellen.
    Mal wieder regierungskritische Nachrichtenseiten gelesen? Regelmäßig dieses linke Blog aufgerufen? Neulich mal aus Neugier dieses rechte Propagandablatt gelesen? Und jeden Abend diese Pornoseite besucht? Sogar die mit den Peitschen und Fesselspielchen? Oder etwa diese wirklich gut gemachte Seite mit Tipps zum Alkoholentzug? Facebook weiß es. Alles. Wer. Was. Wann.
  • Die Gesichtserkennung: basierend auf dem Tagging hochgeladener Photos ermittelt FB die biometrischen Merkmale eines Nutzers. FB "lernt" also, wie die Benutzer aussehen. So kann FB künftig auch Personen auf nicht getaggten Fotos erkennen. Innerhalb Facebooks und natürlich auch außerhalb.
    Aha, mit dem da warst Du also auf einer Veranstaltung! Bist Du das etwa in dem Demonstrationszug dort? Ach, ist ja lustig, dass Dich diese Überwachungskamera in X-Stadt gefilmt hat; sagtest Du nicht, du seist in Y-Dorf? Na, kein Problem. Mit Facebooks Hilfe kriegen wir das schon raus!
  • Bewegungsspuren innerhalb des Netzwerks: welche Profile habt ihr wann und wie oft aufgerufen? Welche Firmenseiten habt ihr angeschaut? Wer sind eure Freunde? Und die Freunde eurer Freunde? Wieviel Zeit verbringt ihr bei FB? Von welchem Standort habt ihr zugegriffen? In welchen (virtuellen) Freundeskreisen bewegt ihr euch, an welchen Personen habt ihr Interesse, ohne dass sie eure Freunde sind? Bestimmte Politiker? Kirchenleute? Gewerkschaftler? Fachärzte, z. B. für Abtreibungen oder Schönheits-OPs? Bei Facebook werdet ihr fündig!
Das alles wird mit eurer Identität verknüpft. Für immer. Löst euch von dem Gedanken, dass Daten "gelöscht" oder "vernichtet" werden können. Dieses alte Bild aus der Papierwelt ist im Digitalen nicht mehr anwendbar. Computer können nicht "löschen" oder "vergessen". Sie können nur "kopieren" bzw. "überschreiben". Das liegt an ihrer ureigensten, tief im Silizium des Prozessors verankerten Funktionsweise. Ein Prozessor kennt keinen Löschbefehl. Anders als in der realen Welt ist das "Vergessen" in der IT ein aktiver Vorgang, nämlich das bewusste Überschreiben alter Daten mit neuen Daten. Das kann ich einprogrammieren. Muss ich aber nicht. Wer merkt den Unterschied?

Geht also davon aus, dass alle Daten, jeder Klick, jede Nachricht, jeder Seitenaufruf, jeder Profilbesuch, jede Freundschaftsverbindung, jedes Statusupdate und eure biometrischen Merkmale für immer gespeichert und mit euch assoziiert werden. Das gilt erst recht für eine Firma wie Facebook, deren Geschäft ausschließlich aus Daten und deren Monetarisierung besteht. Oh, und keine Sorge: Speicherplatz kostet nichts. Jedenfalls fast nichts. Setzt bloß nicht darauf, dass Facebooks Datensammelei an mangelndem Speicherplatz scheitert1.

Die dunkle und die helle Seite von Facebook


Das Interesse alleine an den öffentlich zugänglichen Facebook-Daten ist immens:
  • US-Geheimdienste nutzen verdeckte Facebook-Profile, um Personen schon vor der Einreise zu checken. Prima, das hätte mich bereits betroffen!
  • Auch die deutsche Polizei nutzt FB, hier ein Beispiel. Zitat: "...schauen Beamte gern auf die Pinnwände von Beschuldigten und Zeugen. Der Satz “Den kenne ich nicht, nie gesehen” geht dann bei einschlägigen Party- und Ausflugsfotos mitunter nach hinten los.". Und noch ein Beispiel. Und noch eins.
  • Während des Arabischen Frühlings nutzten mehrere Regimes FB und andere soziale Netzwerke, um Demonstranten, Oppositionelle und deren Freunde ausfindig zu machen.
Das ist meiner Meinung nach nur der Anfang, weil hier nur die öffentlichen Daten genutzt werden. Facebooks "Giftschrank" mit den internen Daten bleibt vorerst noch zu. Die Vergangenheit hat aber gezeigt, dass die Begehrlichkeiten entstehen, sobald die Daten vorhanden sind. Und deren Nutzungsmöglichkeiten sind jedenfalls enorm.
Niemand kann heute die rechtlichen, politischen und sozialen Randbedingungen in beispielsweise 15 oder 20 Jahren voraussagen. Vielleicht wird es mir in 15 Jahren zum Verhängnis, heute diesen FB-kritischen Artikel geschrieben zu haben? Wer weiß? Das Netz vergisst jedenfalls nichts...

Das ist die dunkle Seite von FB. Ich halte es aber für eher unwahrscheinlich, dass diese dunkle Seite von FB selber ausgenutzt wird. FB selber hat ja kein Interesse daran, seinen vielen Millionen Nutzern, die fleißig die Datenerfassung für FB betreiben, zu schaden. Viel eher sehe ich da die üblichen Verdächtigen, also Regierungen, Geheimdienste, Polzei etc. Also genau die, die sich heute schon über die Daten hermachen. Siehe oben.

Es gibt aber auch eine helle Seite. Um beim Beispiel des Arabischen Frühlings zu bleiben: die Vernetzung der Demonstranten und damit letztlich deren Erfolg wurde maßgeblich über Facebook ermöglicht. Ebenso verbreiten sich Gewalt, Willkürmaßnahmen, Gesetzesverstöße, Misshandlungen, politische Falschaussagen usw. in Windeseile via Facebook und ermöglichen so eine vollkommen neue Transparenz. Letzlich ermöglicht FB den leichten Austausch mit Freunden und Bekannten und das ist zweifellos attraktiv, erst recht wenn wie bei mir 6000 km Atlantik und 6h Zeitunterschied zu überbrücken sind. Und damit sind wir wieder bei der Eingangsfrage: bin ich bereit, meine persönlichen Daten, meine Bewegungs- und Verhaltensprofile gegen die digitalen Sozialkontakte zu tauschen?

Das Facebook-Paradoxon


Aus philosophischer Sicht liegt hier ein interessantes Paradoxon vor: das, was ich erstrebe (Vernetzung, Datenaustausch, eine einzige Webseite für alles) ist zugleich das, was mir Angst macht (zentrale Datenhaltung und -verknüpfung, Missbrauch der anfallenden Daten, kein Vergessen). Wie diesen Widerspruch auflösen? Ich weiß es nicht.

In der Vergangenheit trat dieser Widerspruch so nicht auf, weil vieles über dezentrale (z. B. IRC) und/oder anonyme Dienste lief (z. B. ICQ oder Mails2). Man blieb miteinander in Kontakt und der Datenaustausch beschränkte sich auf die reine Nachricht. Eine Verknüpfung mit irgendwelchen persönlichen Profilen fand nicht statt. Da der Mensch jedoch faul ist, Vielfalt als anstrengend empfunden wird und der parallele Betrieb/Pflege mehrerer Dienste aufwändig für den Benutzer ist, hat die zentrale Lösung namens Facebook gewonnen. Und uns das oben beschriebene Paradoxon beschert.

Ich glaube übrigens nicht, dass sich dieses Paradoxon durch "Datenschutz" bzw. "Datenschutzkontrollen" wie kürzlich in Irland lösen lässt. Mitte 2010 lief Facebook auf 60.000 Servern. Bei exponentiellem Wachstum. Jetzt, Anfang 2012, dürften daraus mindestens 100.000 Server geworden sein, schätze ich. Das "Programm" Facebook wird wohl aus mehreren hunderttausend Zeilen Quellcode bestehen. Zzgl. der Netzwerk- und Datenbankstruktur und deren Konfiguration. Wer ernsthaft glaubt, dass irgendein Datenschutzbeamter, der sich -- gerne auch mit einem kleinen Team -- für ein paar Tage bei FB aufhält und von denen bespaßt wird, einen Eindruck davon erhält, wie es
  • hinter den Kulissen im Maschinenraum von Facebook zugeht,
  • welche Daten dort wirklich gespeichert werden und
  • welche Verknüpfungen und Auswertungen auf dieser gigantischen Datenbasis möglich sind
muss in einer erfrischend einfachen und naiven Welt leben, um die ich ihn ehrlich beneide. Die Welt ist schließlich immer nur in so weit kompliziert, wie man sie versteht....

Fazit: Knickt er ein?


Nun habe ich über dutzende Zeilen zum Pro und Contra Facebook herumargumentiert. Und nein, ich mag den Facebook-Ansatz mit seiner Datensammelwut immer noch nicht. Aber vermutlich werde ich mich bald den Sachzwängen beugen und mir einen Account zulegen. Die in solchen Fällen obligatorische hämische Lache irgendwelcher selbsternannten Individualisten, dass ich mich damit dem "Mainstream" und dem "Gruppenzwang" beuge, ist mir dabei völlig wumpe. Bei meiner bisherigen FB-Verweigerung ging es nicht darum, mich von der Masse abzuheben und den Unangepassten zu spielen, sondern um reine, technisch begründete Bedenken wie ich sie oben dargelegt habe. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Um auf das anfängliche Bild des Kapitaleinsatzes zurückzukommen: ich werde versuchen, mit möglichst wenig Kapital- bzw. Dateneinsatz die bestmögliche Rendite zu erzielen. Dazu werden unter anderem ein restriktiverer Umgang mit Browsercookies (eigenes Browserprofil nur für FB) und die Vermeidung einiger FB-Funktionen gehören. Die Privatsphäre-Einstellungen von FB sehe ich beinahe nur als sekundär an, weil ich davon überzeugt bin, dass dadurch nur kontrolliert wird, was FB anzeigt. Und nicht, welche Daten FB wirklich sammelt. Auch wenn das so natürlich nie jemand zugeben wird. Aber lasst mir doch bitte meine kleine Paranoia.

Wir sehen uns dann demnächst auf der anderen Seite.


1: Außerdem warb Mark Zuckerberg bei der Einführung der Facebook-Timeline ausdrücklich damit, FB die "Geschichte eures Lebens" aufzeichnen zu lassen. Deutlicher kann man nicht bestätigen, dass FB nicht vorhat, irgendwelche Daten zu löschen.
2: Bedenkt man, dass einem heute an jeder Ecke irgendwelche Wegwerf-Webmailadressen hintergeworfen werden, erlaube ich mir, Emails in diesem Kontext als anonym zu bezeichnen.

1 Kommentar:

  1. Dark side has cookies.
    Ich hoffe noch auf die dezentrale Varianten und eine Kombination und ein Zukunft von Home-Server-Apps. Aber mein Bekanntenkreis ist entweder total technophil oder ist froh wenn er mehr als 4 Stunden Schlaf am Stück bekommt. Beide haben eines gemeinsam. FB ist ihnen egal. (Noch) Kein Zugzwang für mich.

    Grüße nach NY.

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